Die Seedorfer Schiffe und die „ostdeutsche Gründerzeit“
Ein Erlebnisbericht von Reinhard Bach aus Greifswald
1. Das Anliegen
Die Geschichte der „Seedorfer Schiffe“ – so genannt nach dem Ort ihrer Auflandung und ihrer fast ein Vierteljahrhundert andauernden terrestrischen Präsentation – ist inzwischen recht gut
dokumentiert: Michael Sohn beschrieb sie in Text und Bild, einschließlich Vermessung und Riss, samt Zeichnungen der anzunehmenden Risse unter dem Titel Wracks auf Rügen in der Nr. 2 des
wunderschönen, leider nur kurzlebigen Magazins „Alte Schiffe“. Vor allem die sehr fundierten Recherchen von Joachim Kaiser standen dabei Pate. In einem zweiten Artikel in der Nr. 22 des gleichen
Magazins, Jahrgang 1995, ergänzte Michael Sohn diese Recherchen unter dem Titel Die Seedorfer Plattbodenschiffe. Fortsetzung einer beendeten Geschichte. Wie der Titel andeutet ging es hier vor allem
um die inzwischen erfolgte Rettung und Abbergung der Seetjalk ANNE-MARIE (später CHRISTIAN MÜTHER) und des Besanewers ALFRED. Ergänzt wird die Biographie der Schiffe dabei auch durch Dokumente, die
ich selbst im Zuge der damals aktuellen Bemühungen um die Rettung der Schiffe aus verschiedenen Quellen auftreiben konnte – sei es aus dem Besitz der Stiftung Weimarer Klassik, des damaligen
Eigentümers, sei es aus dem Besitz der Familie Hilgendorf, den der letzte Schipper des Alfred, nämlich Alfred Hilgendorf, aufbewahrt hatte, sei es von Anwohnern aus Seedorf, oder durch die
Korrespondenz mit Dr. Wolfgang Rudolph, dem ersten Chronisten dieser Schiffshistorie (dessen 1958 angefertigte Detailbeschreibung des ALFRED noch vorliegt).
Einen sehr umfangreichen Fundus dieser Dokumente, speziell zur Geschichte des ALFRED habe ich 1996 dem jetzigen Eigner Hinrich Meyer übergeben, der seit 1996 den Wiederaufbau des Besanewers mit viel
Engagement und Liebe vollendete und daher prädestiniert wäre, einmal die gesamte Biographie des ALFRED beispielhaft für die Nachwelt aufzuschreiben. Der folgende Beitrag soll vor diesem Hintergrund
nicht viel mehr sein, als ein authentischer Erlebnisbericht über eine sicher nicht alltägliche Rettungs- und Bergungsaktion. Und er soll erinnern an die besonderen historischen Umstände, die dieser
Aktion vorausgingen, sie begleiteten bzw. sie erst möglich gemacht haben.
2. Fragmente einer Charakteristik der Zeitumstände
Eine Szene der Wiederbelebung traditioneller Seefahrt und Seemannschaft, damit vor allem der Rettung maritimen Kulturguts aus Liebhaberei, Abenteuerlust oder historischer (Selbst)Verpflichtung hatte
sich nahezu zeitgleich, aber praktisch vollständig voneinander isoliert und vor allem unter völlig verschiedenen Voraussetzungen in Ost- und Westdeutschland entwickelt. (Vielleicht waren ja alle nur
gleichermaßen genervt von der sich durchsetzenden Gleichförmigkeit und Sterilität der Formensprache des industriellen Zeitalters.) Im Osten Deutschlands hatte Ekkehard Rammin als Erster damit
begonnen, ehemalige Fischereisegler, die sogenannten Zeesenboote, vor dem Abwracken zu bewahren, sie wiederzubesegeln und damit schon in den sechziger Jahren eine kleine, allseits bestaunte
altertümliche Flotte unter braunen Segeln aufzubauen. Im Westen entstanden später auf breiter Front die „Museumshäfen“ nach dem Vorbild von Flensburg und Övelgönne/Hamburg und eine Gemeinschaft der
„Freunde des Gaffelrigg“ machte von sich reden.
Ich selbst hatte 1985 in Greifswald gemeinsam mit Udo Söder und Klaus Gericke eine „Arbeitsgemeinschaft Fischereitradition“ unter dem Dach des „Kulturbundes der DDR“ ins Leben gerufen, deren (damals
ausgesprochen verwegenes) Ziel es war, einen ausrangierten hölzernen „17m-Kutter“ der FPG (Fischereiproduktionsgenossenschaft) Greifswald-Wieck zu restaurieren, gleichzeitig aber auch durch
öffentliche Vorträge über Fischerei- und Schifffahrtsgeschichte andere Menschen (vor allem auch die Behörden!) für die Bewahrung des maritimen Erbes zu sensibilisieren. Um unserer Forderung nach
Liegeplätzen für den 17m-Kutter, mein Zeesenboot SWART JOHANN und einige andere heimatlose alte Schiffe in Greifswald Nachdruck zu verleihen, organisierten wir 1988 im Rahmen des Greifswalder
„Fischerfestes“ die erste Greifswalder GAFFELRIGG; ein gemeinsames Traditionsseglertreffen, an dem nahezu die gesamte damals in der DDR vertretene Szene der Traditionssegler beteiligt war: ca. 20
Zeesenboote aus Bodstedt, Stralsund, Wustrow, (Greifswald,) Rügen und Usedom, die damals berühmte CONCORDIA der Wenzelsbrüder aus Rostock, der Lotsenschoner RUDEN von Christian Müther und Rolli
Reckmanns pommersche Quatze ERNESTINE. Bis auf einige weitere Zeesenboote war dies tatsächlich der gesamte Bestand an Traditionsschiffen der damaligen DDR. Jörg Friedrichs BERTA ausgenommen, die noch
auf einem Rasen bei Leipzig restauriert wurde.
Alle Schiffe wurden, wie seither in Greifswald üblich, in einer schwimmenden Parade über Lautsprecher vorgestellt (Moderator Franz Scherer) und so gelang uns ein für die damaligen Verhältnisse
außergewöhnliches und bis dahin einmaliges Spektakel, das große Resonanz fand. Nicht nur, weil neben den berühmten aber nur für Zeesboote reservierten Bodstedter Regatten erstmals ein für alle
Traditionssegler offenes Treffen in der DDR stattgefunden hatte, sondern auch weil ca. 40.000 Menschen nach Greifswald kamen und sich begeistern ließen. Auch das Greifswalder Fischerfest hatte damit
wieder eine Zukunft, Angesichts dieses Zuspruchs, der sogar die Stadtverwaltung erfasste, war auf diese Weise auch das Problem unserer Liegeplätze prinzipiell geklärt. Als der für „Kultur“ zuständige
Stadtrat, ein Herr Kind, mich bat, das Spektakel im darauf folgenden Jahr erneut zu organisieren, forderte ich im Gegenzug für jedes teilnehmende Schiff einen Kasten Bier und zwei Kanister Diesel.
Und tatsächlich konnten wir anlässlich der zweiten GAFFELRIGG im Juli 1989 diese Begrüßungsgabe an alle Besatzungen verteilen. Eine Geste, die ankam.
Mit der Wende 1989/90 änderte sich fast alles, und unser Enthusiasmus für alte Schiffe bekam Flügel… Noch im November 1989 fuhren Hinrich Meyer und ich nach Flensburg, wo wir von Rainer Prüß, Gerd
Büker und Günter Wulf, der Führungsriege des Flensburger Museumshafens, mit offenen Armen empfangen wurden. Wie wichtig die Unterstützung aus Flensburg damals für uns war, wie sehr sie uns half,
eigene und unabhängige Strukturen für die Förderung der Traditionsschifffahrt in der noch bestehenden DDR aufzubauen, lässt sich heute, im Zeitalter des Internet, nicht mehr ermessen. Und so war es
nur folgerichtig, dass der genannte Flensburger Personenkreis im Frühjahr 1990 nach Stralsund kam, um der Gründung der „Traditionsseglergemeinschaft der DDR, Mecklenburg-Vorpommern“ beizuwohnen.
Hans-Peter Wenzel (CONCORDIA), aus Rostock war unser erster Vorsitzender, Rolli Reeckmann und Reinhard Bach jeweils stellvertretende Vorsitzende. Beeindruckend fanden unsere westdeutschen Freunde,
wie sich später in Erzählungen herausstellte, vor allem unsere Trinkkultur. Sie waren weder die Menge noch die Qualität der „hochprozentigen Anleihen“ gewohnt und reagierten verstört, wenn sie
gefragt wurden: „Trinkst du braun oder weiss?“ „Pommersch Dunsuppen“ schrieb Rainer Prüß u.a. später auf jenes historisch bedeutsame Plakat, das er im Frühjahr 1990 als Präsentation des „1.
Deutsch-deutschen Gaffeldurcheinanders“ gestaltete. Es enthielt die gemeinsame Ankündigung von Flensburger RUM-REGATTA (BRD) und Greifswalder GAFFELRIGG (DDR) für das Jahr 1990 und ist damit ein
Zeitdokument von unschätzbarem Wert. Denn noch existierte die DDR, aber der auf dem Plakat verewigte Zustand eines freundschaftlichen Nebeneinanders der beide deutschen Staaten bemaß sich auf nur
wenige Monate – ein Intermezzo zwischen vierzigjährigem Kalten Krieg und Wiedervereinigung. Tatsächlich fuhren wir noch im selben Jahr mit fünf Zeesenbooten und der Galliot CONCORDIA durch Teile der
südlichen und westlichen Ostsee zur RUM-REGATTA nach Flensburg, und empfingen im Gegenzug die Flensburger Schiffe, aber auch Traditionssegler aus Hamburg (u.a. Jörgen Bracker, Volker Mayer und
Heinrich Woermann) und Dänemark (u.a. Heinz Möller und Marcus Andersen) zur GAFFELRIGG in Greifswald. Und all die dabei geknüpften Kontakte, aus denen viele dauerhafte Freundschaften und Verbindungen
entstanden, halfen uns auch bei der Gründung des Greifswalder Museumshafens im Jahre 1991 und verschaffte uns den nötigen Rückenwind für die Einforderung der seither in Greifswald andauernden
kostenfreien Liegerechte (!) für Traditionsschiffe. Rückenwind und substantielle Unterstützung, aber auch für das Vorhaben, die „Seedorfer Schiffe“ für den neu gegründeten Greifswalder Museumshafen
zu requirieren…
3. Die Seedorfer Schiffe
Die im Februar des Jahres 1970 mit stählernen, über Taljen geschorenen Trossen, von russischen Traktoren über Schnee und Eis auf Land gezogenen Plattbodenschiffe hatten Anfang der neunziger Jahre
ihren Dornröschenschlaf beendet: Immerhin waren sie während der Zeit ihrer Nutzung als Ferienobjekte durch die Mitarbeiter der NFG (Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten) auch äußerlich in einem
ansehnlichen, teils farbenprächtigen Zustand erhalten worden. Ihre Bordtechnik , soweit sie das Rigg betraf, war konserviert und durch eine leichte Bemastung zur Veranschaulichung ihres
ursprünglichen Charakters als historische Arbeitssegler ergänzt worden. Es waren Gerüchte über die bevorstehende Auflösung des seltsamen Schiffsfriedhofs von Seedorf die uns damals buchstäblich
elektrisierten. Und so fuhr ich, etwa zeitgleich mit der Gründung des Greifswalder Museumshafens, mit Udo Söder erstmals in die Zentrale der in die Stiftung Weimarer Klassik umgewandelten NFG
nach Weimar. Unser Anliegen, die Schiffe als „milde Gabe“ unserem Museumshafen zur Verfügung zu stellen, schien verwegen – aber verwegene Ideen machen gelegentlich Eindruck. Zahlreiche Privatleute
hatten bereits finanzielle Gebote abgegeben, gegen die wir lediglich unseren Idealismus und einen gewissen historischen Anspruch als ehemaliger Heimathafen zu setzen hatten. Nach fast zweijährigen
Verhandlungen entschied der Stiftungsrat dennoch zu unseren Gunsten und am 18.02.1993 konnte ich in einem Spiegelsaal des Weimarer Schlosses den Kaufvertrag unterzeichnen: Die Seetjalk ANNE-MARIE,
der Besanewer ALFRED und das Heckschiff JOHANNA-RENATE wechselten für jeweils eine DM in den Besitz des Museumshafens Greifswald. Doch was von uns zunächst als Triumph gefeiert wurde, sollte sich
bald als Alptraum erweisen. Es stellte sich nämlich heraus, dass die stählernen Böden aller Schiffsrümpfe, obwohl sie auf flachen Betonsockeln gestanden hatten, im Laufe eines Vierteljahrhunderts
(offenbar durch die ständige Versorgung mit nicht abgeleitetem Schwitzwasser) komplett durchgerostet waren. Die mir noch vorliegenden, damals von allen möglichen Werften eingeholten
Sanierungsangebote bezifferten sich auf 100.000 bis 150.000 DM pro Schiffsboden. So sehr sich die Freunde im Museumshafen Greifswald über den Erfolg der Requirierung der Schiffe gefreut hatten, so
sehr geriet ich nun unter Druck, das „Problem“ wieder zu entsorgen. Mit dem „Hut in der Hand“ suchte ich nun, im Angesicht der Katastrophe, nach neuen privaten Eignern, denen ich lediglich einen
kostenfreien Liegeplatz in Greifswald versprechen konnte. Aber die Szene der Enthusiasten alter Schiffe war damals schon die Szene der kleinen, nicht der großen Geldbeutel und so gestaltete sich die
Suche äußerst schwierig… Schmunzeln lässt mich aus heutiger Sicht noch immer ein erhalten gebliebener Brief von Birgit Wulf, der Ehefrau von Günter Wulf aus Flensburg. Er enthält die Annullierung der
Zusage von Günter Wulf bezüglich der Übernahme der Seetjalk ANNE-MARIE (zum Preis von 1,- DM) sowie die Auflistung der mit gleicher Post zurückgesandten Schiffsunterlagen. (Offensichtlich war Günter
im Familienrat gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gebracht worden, was angesichts der geschilderten desaströsen Befunde mehr als verständlich schien!)
Das Heckschiff JOHANNA-RENATE übernahm schließlich der immer sorgenfreie Udo Söder; den Besanewer ALFRED übernahm ich selbst (zusammen mit einer nicht unerheblichen Hypothek auf mein Haus!) und was
die ANNE-MARIE anging, so folgten wir einer Idee Ulrich Müthers, dessen Sohn Christian an einem Asthmaanfall verstorben war. Wir sammelten über zahlreiche Spendenaufrufe das nötige Geld für eine
Stiftung, die das Segeln mit asthmakranken Kindern auf traditionellen Schiffen fördern sollte. Und über diesen „Umweg“, der auch mit öffentlichen Fördergeldern begleitet wurde, gelang uns der Aufbau
der Seetjalk ANNE-MARIE für die Zwecke des Segelns mit asthmakranken Kindern. Die Gründungsväter der CHRSTIAN-MÜTHER-STIFTUNG, die die ehemalige ANNE-MARIE seither als CHRISTIAN-MÜTHER betreibt, sind
Walter Ribbeck, Ulrich Müther und Reinhard Bach.
Von alldem, was folgte, von phantastischen Ideen und Alpträumen, von koordinierten Planungsschritten, von technischen (und menschlichen) Vorbereitungen, der Organisation von Technik und Material vor Ort, vom sommerverschlingenden „Entkernen“ der Schiffe und ihrem Wiederaufbau auf dem ewig feuchten und immer weichen Boden der Seedorfer Gegend zu berichten, hat etwas mit „Tausendundeiner Nacht“ zu tun. Es kann hier bestenfalls in Episoden angedeutet werden… In Roland Aust vom Flensburger Museumshafen fand ich den Stahlschiffbauer, der in der Lage war, die unglaubliche Leistung eines kompletten Auswechselns der Schiffsböden einschließlich aller Kimmplatten zu vergleichsweise überschaubaren Kosten auf der grünen Wiese zu bewerkstelligen. Und während er diese Leistung, bei der wir als technische Hilfskräfte agierten, am ALFRED gemeinsam mit der „fahrenden Schweißerin“ Beate vollbrachte, wurde gleichzeitig unter seiner fachlichen Anleitung auch der Boden der Seetjalk von einer Stralsunder „Aufbau- und Bildungsgesellschaft“ im Rahmen einer ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) komplett erneuert.
Damit standen wir aber erneut vor einer Herausforderung, die wir lange reflektiert, aber nie wirklich an uns heran gelassen hatten: Wie, um alles in der Welt, transportiert man – ohne auf eine neue
Eiszeit zu warten – zwei vierzig bis sechzig Tonnen schwere Schiffe über weichen Boden, d.h. also ohne die Möglichkeit des Einsatzes schwerer Technik, über eine Distanz von ca. 100 m in Richtung
Wasser? Das Gespenst, den gesamten Aufwand der Erneuerung der Schiffsböden umsonst betrieben zu haben, raubte mir den Schlaf. Ich berief schließlich eine „Ideenkonferenz“ vor Ort ein, zu der ich alle
mir bekannten findigen Köpfe einlud. Es kam zu den erstaunlichsten Vorschlägen: Rolli Reeckmann schlug vor, die Schiffe über die Längsachse zu rollen, Ulrich Müther wollte einen riesigen Wassergraben
baggern und hatte bereits mit dem Umweltschutz verhandelt, Udo Söder schlug vor, riesige, rings um die Schiffe laufende Griffstangen anzubringen und eine Garnison der damals noch anwesenden Roten
Armee mit der Hebeübung zu beauftragen usw. usf. Schließlich erinnerte sich Roland Aust der besonderen technischen Möglichkeiten der Hamburger Firma „Harms Bergung“, die mir tatsächlich anboten, die
Schiffe zum Einzelpreis von einigen zigtausend DM über riesige Gummirollen abzubergen. Da mir diese Summe gerade eben nicht zur Verfügung stand, verhandelte ich so lange weiter, bis man die
aufblasbaren Wunderrollen als Wochenendleihgabe für ca. 2000,- DM zur Verfügung stellte. Allerdings mit der Ansage, dass pro zerstörter Rolle je 4000,- DM fällig würden. Damit war zwar eine mögliche
Lösung in Sicht, gleichzeitig aber auch der nächste Alptraum geboren! Denn so sehr ich auch in alle Welt telefonierte, es fand sich nicht ein einziger Versicherer, der bereit gewesen wäre, das
abzusehende Risiko eines Platzens oder sonstiger Zerstörung der Gummirollen, geschweige denn die sonstigen Gefahren dieser laienhaften und abenteuerlichen Aktion zu versichern. Es blieb also wieder
einmal nichts übrig als auf Gott zu vertrauen und mit einigen LKW-Ladungen feinstem Kies das Risiko eines oder mehrerer „big-bang“ zu minimieren.
Als es dann aber so weit war und der ALFRED als erstes Schiff zitternde und schaukelnde Bewegungen auf dem Rücken der fünfzehn quer unter ihm liegenden, aufgepumpten Rollen vollführte, misslang
zunächst der Transport, weil der als Zugaggregat eingesetzte NVA-Jeep auf der Stelle im weichen Boden versackte. (Vielleicht war ja der Fahrer Udo Söder damals schon eine Spur zu schwer?) Also nahmen
wir die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes selbst in die Hand: ca. 30 Mann zogen am Schleppseil – und es brach und alle kugelten sich im Dreck. Schließlich trieben wir einen Moortracktor (!) auf, der
zufällig (?!?) in der Gegend zu tun hatte und dessen 1m breite Reifen tatsächlich nicht versackten… die abenteuerlichste aller Fahrten des Besanewers ALFRED konnte beginnen. Und so, wie die Rollen
achtern unter dem Blech hervorsprangen, das wir zu ihrem Schutz unter der Ruderanlage angebracht hatten, so rannten wir damit wieder nach vorn, um sie erneut unter den Bug zu bringen: eine ebenso
aufregende wie schweißtreibende Arbeit. Ein Radlader bremste das Heck des Schiffes, um überraschenden Rollbewegungen vorzubeugen. Um schließlich den letzten Akt dieses Bugsierens bei Erreichen der
Uferkante zu ermöglichen, musste ich mich selbst mit einer Eisenbahnschwelle in den Armen, gewissermaßen als Puffer, zwischen das Heck des Schiffes und das Vorgeschirr des nunmehr nun noch
schiebenden Moortraktors begeben: Aufgaben dieser Art kann man nicht delegieren! Doch unser verwegenes Treiben wurde belohnt: In den frühen Nachmittagsstunden jenes sonnigen 20. September des Jahres
1994 erlebten wir den unbeschreiblichen Augenblick des Aufschwimmens des Besanewers ALFRED; die See hatte ihn wieder und die ländliche Ruhepause von 24 Jahren war beendet. Und während wir glücklich
und irgendwie fassungslos diesen Augenblick verarbeiteten und sich Roland Aust mit seiner PIROLA darum bemühte, den treibenden ALFRED ordentlich längsseits zu bekommen, ertönte quer durch die ganze
Seedorfer Bucht und vor allem vom gegenüberliegenden Ufer ein unbeschreibliches, lang anhaltendes Konzert aus allen Tönen und Tonlagen, die Blasinstrumente, Pfeifen oder was sonst noch Lärm machte,
hergeben können. Viele Menschen hatten offenbar an dem Stapellauf teilgenommen, nachdem noch Wochen zuvor die pessimistischsten Prognosen die Runde gemacht hatten und alle Wetten gegen uns standen.
Es war ein bewegender Augenblick, den die Beteiligten mit Sicherheit nicht vergessen werden.
Das Abslippen der Seetjalk bewerkstelligten wir nach dem gleichen Modus und auch hier verlief die Sache im Wesentlichen reibungslos. Wie durch ein Wunder, dies verdient wahrhaftig betont zu werden,
kam keine der Gummirollen zu Schaden, und mein Leben konnte tatsächlich ohne völligen Bankrott weitergehen. Selbstverständlich war dies nicht, eher schon unverschämtes Glück, für das ich tiefe
Dankbarkeit empfand.
Was das dritte von der Weimarer Stiftung übernommene Schiff, die JOHANNA-RENATE anging, so hatte Udo Söder den Sommer des Jahres 1993 mit dem „Entkernen“ verbracht und dabei noch wesentlich mehr
Tonnen aller Arten von Baumaterial zutage gefördert, als ich aus dem viel kleineren ALFRED. Für den weiteren Aufbau fehlte ihm dann schließlich das Geld, und andere Interessenten zogen sich
regelmäßig zurück. Ihn dafür im aktuellen Greifswalder Hafenboten zu verspotten, ist mehr als unangebracht, dokumentiert aber auch einen tiefgreifenden geistigen Wandel. Als Schiffsführer der
CHRISTIAN MÜTHER, also der von uns ebenfalls abgeborgenen und wieder aufgebauten ANNE-MARIE, betreut Udo Söder indessen die regelmäßigen Fahrten des Schiffes mit asthmakranken Kindern im Auftrag
unserer Stiftung Segeln mit asthmakranken Kindern. In diese Zeit fällt auch die ebenfalls von Udo besorgte technische Aufrüstung und Zulassung der CHRISTIAN MÜTHER als Traditionsschiff im Sinne der
Sicherheitsrichtlinie für Traditionsschiffe.
Doch zurück zum ALFRED. Für seinen weiteren Aufbau benötigte ich zwei weitere Jahre. Das stählerne Nachthaus zwischen Roof und Ladeluke sowie das hölzerne Ruderhaus auf dem achterlichen
Quarterdeck mussten abgerissen und Teile des stählernen Decks ausgewechselt werden. Um die Ladeluke in den Originalzustand zu versetzen, musste ein gewaltiger darüber errichteter Decksaufbau entfernt
werden. Die noch vorhandenen stählernen Traversen für die Aufnahme der Decksbalken wurden am ursprünglichen Ort wieder angebracht. Schwere hölzerne Ladelukendeckel und eine darüber gespannte Plane,
die mit Latten über die am Süll noch vorhandenen Winkeleisen verspannt werden konnte, gaben der Ladeluke schließlich ihr ursprüngliches Aussehen wieder.
Ein besonderer Augenblick war schließlich das Sandstrahlen des kompletten Rumpfes auf der Slip der ehemaligen Buchholzwerft. Dabei handelt es sich um einen winzigen „Schiffbauplatz“ (so die
Bezeichnung im 19. Jahrhundert), der zu DDR-Zeiten hauptsächlich als Reparaturstützpunkt der Volkswerft Stralsund genutzt worden war, mit der Wende 1990 jedoch aufgegeben wurde. Seinem drohenden
Abriß konnten wir 1993 zuvorkommen und die Greifswalder Bürgerschaft stattdessen von der Notwendigkeit der Erhaltung dieses letzten von ehemals sehr zahlreichen kleinen Schiffbauplätzen am Ryck
überzeugen. Immerhin waren an dieser Stelle auch noch zu DDR-Zeiten interessante Holzschiff-Neubauten entstanden, u.a. der erste Zeesenbootneubau, die SUNDDRIEVER, nach dem Riss der NORDSTERN von
Ekkehard Rammin im Jahre 1985. Hinrich Meyer und Jörg Scheffelke vom Greifswalder Museumshafen hatten, nachdem der Abriss der kleinen Werft verhindert worden war, einem Vorschlag von Joachim Kaiser
sowie dem Vorbild der „Ideenküche“ Flensburg folgend, Konzeptionen und Pläne einer Museumswerft erarbeitet. Eine Gruppe jüngerer Leute hat dieses Vorhaben inzwischen mit einer Vielfalt eigener Ideen
und Initiativen weiterentwickelt und mit einer eigenen Vereinsstruktur als Greifswalder Museumswerft e.V. umgesetzt. Doch 1995, als ich für das Sandstrahlen des ALFRED eine Slipmöglichkeit suchte,
war dies alles noch Zukunftsmusik und gerade erst einmal der Abriss verhindert worden. „Solche Anlagen kennt man doch nur noch von Schwarz-Weiss-Fotos“ war damals der absolut zutreffende Kommentar
von Michael Schmidt, dem Chef der erfolgreichen Greifswalder Firma Hanse Yachts. Udo Söder, der übrigens gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Klaus Schumann die notwendigen Erdarbeiten für die
Verlegung einer Wasser- und Stromversorgung für den Greifswalder Museumshafen auf einer Länge von 600m ausgeführt hatte, gelangt es zuerst, die inzwischen defekte altertümliche Slipwinde wieder in
Gang zu setzen und so konnte ALFRED im Sommer 1995 für die Durchführung einer Reihe weiterer elementarer Wiederaufbauarbeiten aufgeslippt werden. Er hatte schließlich auch eine für meine Begriffe
recht abenteuerliche Kompressoranlage zum Sandstrahlen funktionstüchtig gemacht, und so konnte ich die mühselige Arbeit des Strahlens der gesamten Außenfläche des Rumpfes beginnen. Ich erinnere mich,
dass die postkartengroße Sichtscheibe in meinem Schutzhelm jeweils nur für etwa 20 Minuten durchsichtig blieb, dann aber infolge des von der Metalloberfläche zurückgeworfenen Strahlguts, das aus
einem scharfkantigen Granulat von Kupferschlacke bestand, regelmäßig blind wurde. Mit einem Glasschneider, die alte blindgewordene Scheibe als Schablone nutzend, war ich nun obendrein ständig mit der
Herstellung neuer Sichtscheiben befasst, was mir jedoch allmählich recht flott von der Hand ging. Aber der ganze Aufwand lohnte die Mühe: Unter der verwitterten Haut uralter Teer- und Farbanstriche
schälte sich, nach über 70 Jahren, ein junfräulicher, silbern schimmernder flusseiserner Schiffskörper hervor. Auch dies war wieder ein überwältigender Moment, in dem ich wahrscheinlich ebenso sehr
staunte, wie weiland der junge Perceval beim Anblick der fünf Ritte, die er ihrer glänzenden Rüstung wegen für Engel hielt… Doch auch diese Freude blieb nicht ungetrübt, denn kurz vor Beendigung
dieser schweren und schönen Arbeit, irgendwo im engen Zwischenraum von Schiffsboden und Slipwagen liegend, verhedderten sich die Schläuche der Zuleitung und der Strahl riss mir in einem Sekundenblitz
eine faustgroße tiefe Wunde in den linken Unterarm… Udo Söder vollendete die letzten noch ungestrahlten Quadratmeter und er war es auch, der die Ruderanlage überholte und für die neue Antriebswelle
ein Lager aus Weißmetall im fachmännischen Gußverfahren herstellte. Was die nun anstehende Motorisierung des ALFRED anging, so kam mir die „Haushaltsauflösung“ der NVA auf dem ehemaligen Stützpunkt
Peenemünde zugute. Ich kaufte für 1200 DM ein fabrikneues Bugsierboot der NVA, dessen Vier-Zylinder-Zweitakt-Diesel (eine aus dem zweiten Weltkrieg stammende russische Raubkopie des amerikanischen
Detroit-Diesel!), noch teilweise in Fettpapier eingewickelt war. Dabei gestaltete sich alleine die Überführung dieses Bugsierbootes auf dem Landweg von Peenemünde nach Greifswald zu einer weiteren
haarsträubenden Odyssee, über die zu berichten hier nicht der Ort ist. Während ALFRED 1996 seine neue Maschine erhielt und die Vorbereitungen für das Wiederaufriggen bereits weit gediehen waren, trat
der damals völlig heruntergekommene hölzerne Zweimastgaffelschoner SOLVANG schicksalhaft in mein Leben und beanspruchte die folgenden 10 Jahre für sich. Immerhin schloss ich die Herstellung des
Großmastes für den Besanewer ALFRED noch ab, ebenso alle dazu gehörigen Stahltauwerksspleissarbeiten und die Herstellung der Mastbeschläge. Der Mast wurde dann in symbolischer Eintracht gemeinsam mit
dem neuen Eigner Hinrich Meyer aufgestellt, der sich auch bereits für unzählige Schweißarbeiten bei der Wiederherstellung vieler maroder Teile der alten Schanz usw. engagiert hatte. Seither ist
ALFRED dort in liebevollen Händen, hat sein ursprüngliches Aussehen durch die Vervollständigung des Riggs damit übrigens auch seine hervorragenden Segeleigenschaften – wiedergewonnen und gehört
in seiner unverfälschten Art ohne Zweifel zu den originalgetreuesten Erscheinungen der Szene.
P.S.: Dieser Bericht wurde im Jahre 2008 für die Zeitschrift Piekfall, das Mitteilungsblatt für die Freunde des Gaffelrigg Nr. 95 geschrieben und dort veröffentlicht. Vieles hat sich seither verändert, auch der ALFRED hat mit Paul Ruprecht einen neuen jungen und enthusiastischen Eigner. Als ein Zeitzeugnis der besonderen Art sollte der vorliegende Bericht dennoch ohne Veränderungen hier zugänglich gemacht werden.