Caspar David Friedrich & Ernst Moritz Arndt: Identitätssuche im Epochenumbruch. Karl-Lappe-Verlag, Greifswald 2023; 171 Seiten.
Ernst Moritz Arndt. Frieden - Freiheit - Demokratie. Stimme für ein neues Deutschland.
Karl-Lappe-Verlag, Greifswald 2025; 239 Seiten.
links zur Arndt-Diskussion an der Universität Greifswald
- http://docplayer.org/32616746-Thesen-zum-greifswalder-universitaetsnamen-von-dirk-alvermann-reinhard-bach-irmfried-garbe.html
- http://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Greifswald/Professor-Ernst-Moritz-Arndt-war-ein-demokratischer-Denker
- http://www.uniohnearndt.de/tag/reinhard-bach/
- https://www.uni-greifswald.de/fileadmin/uni-greifswald/1_Universitaet/1.4_Geschichte/1.4.2_Ernst_Moritz_Arndt/Wissenschaftliche_Anhoerung_Arndt/Anhoerung11-12-2009_Ref-Bach.pdf
- https://www.uni-greifswald.de/universitaet/geschichte/ernst-moritz-arndt/wissenschaftliche-anhoerung-arndt/
- http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/ernst-moritz-arndt-universitaet-greifswalder-namensstreit-a-636787.html
- http://www.blauenarzisse.de/geschichtslosigkeit-sorgt-fuer-zukunftslosigkeit/
- https://www.weltbild.de/media/txt/pdf/9783412207632-047767719-ernst-moritz-arndt.pdf
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=240588619701785&id=218832805210700
- http://www.adelinde.net/universitaet-greifswald-kriecht-zu-kreuze/comment-page-1/
- http://www.newbooks-services.de/MediaFiles/Texts/2/9783412207632_Excerpt_001.pdf
von
Reinhard Bach
(veröffentlicht in: D. Alvermann/I. Garbe: Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen. Forschungen zur Pommerschen Geschichte Bd. 46, Köln/Weimar/Wien, 2011, S.59 - 70)
Aufklärung und Romantik, die ihre wesentlichen Prägungen als kulturgeschichtliche Epochen alternativ in Frankreich bzw. Deutschland erfuhren, werden in aller Regel, und dies im Grunde vollkommen zu Recht, aus ihrer tief greifenden Gegensätzlichkeit verstanden. Tatsächlich erhebt sich die Kritik an der französischen Aufklärung, insbesondere an den Zuspitzungen einer sensualistisch begründeten Ethik und einer abstrakt verallgemeinernden Historiographie, vor allem in Deutschland bereits lange vor der Französischen Revolution.1 Sie verbindet sich den geistigen Strömungen des Deutschen Idealismus, des Sturm und Drang und den Anfängen des so genannten Historismus.2 Ihre Kontinuität ist schließlich Bestandteil einer nationalen Geschichtsschreibung (Heinrich v. Treitschke3 ), der Ernst Cassirer noch 1932 mit seiner berühmt gewordenen Monographie zur „Philosophie der Aufklärung“4 den Versuch einer Ehrenrettung der Aufklärung entgegensetzt. Sein Buch widmet Cassirer der „Revision jenes großen Prozesses, den die Romantik gegen die Aufklärung angestrengt hat. Das Urteil, das sie in diesem Prozeß gefällt hat, wird noch heute von Vielen kritiklos übernommen: und die Rede von der ‘flachen Aufklärung’ ist noch immer im Schwange. Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Darstellung wäre erreicht, wenn es ihr gelänge, diese Rede endlich zum Schweigen zu bringen.“5
Das Anliegen Cassirers wurde, wie wir wissen, durchaus erfüllt. Jahrzehnte der Aufklärungsforschung haben die unvergleichliche Bedeutung dieses geistigen Aufbruchs für die moderne Welt, nicht zuletzt für republikanisches Denken, religiöse Toleranz, politischen Liberalismus und die Universalität der Menschenrechte fest im Bewusstsein der Menschheit verankert. Vor diesem Hintergrund werden nun umgekehrt bestimmte Defizite moderner Romantikforschung spürbar, die durchaus auch etwas mit der widersprüchlichen Wahrnehmung Ernst Moritz Arndts in unserer Gegenwart zu tun haben bzw. auch dort zutage treten. Diese Defizite ermöglichen offenbar auch den geistigen Spielraum für einen ebenso umstrittenen wie prominenten historiographischen Ansatz, der in einem neuartigen Verständnis der so genannten Gegenaufklärung die Wurzeln der Entgleisungen deutscher Politik im 20. Jahrhundert verortet.6 Folgt man diesem Ansatz, so beginnt die Geschichte des Unheils mit Herder, dessen Aufklärungskritik zum Ausgangspunkt des kulturellen und politischen Nationalismus, des Antirationalismus und Antikosmopolitismus erhoben wird. Unterstellt wird dabei allerdings – gemäß einem verbreiteten Topos der modernen Aufklärungsforschung und übrigens im Einklang mit Cassirer –, es handele sich bei der Aufklärung um eine im großen und ganzen einheitliche philosophische Strömung, die letztlich nur einer definierbaren Ethik, nämlich der Ethik des Liberalismus, des Kosmopolitismus und des Rationalismus verpflichtet sei.7 Ansätze zeitgenössischer Aufklärungskritik geraten vor diesem Hintergrund gewissermaßen automatisch in einen Kontext der Irrationalität und als „politische Romantik“ in den Geruch eines reaktionären Konservatismus, wenn nicht gar eines an Mittelalterverklärung leidenden ideengeschichtlichen Anachronismus. So bleibt auch hier letztlich der eingangs erwähnte Gegensatz von Aufklärung und Romantik als Dreh- und Angelpunkt der Geschichtsbetrachtung dominierend.
Ernst Moritz Arndt mag uns – ganz im Unterschied zu seiner verbreiteten Stigmatisierung als Gegner der Aufklärung und Feind der Franzosen – die Gelegenheit geben, eine andere Sichtweise zu illustrieren. Eine Sichtweise, in deren Mittelpunkt einige der geistigen Verbindungslinien zwischen Aufklärung und Romantik stehen und die damit vor allem auf den Aspekt der Komplexität und der inneren Widersprüchlichkeit dieses Epochenumbruchs verweisen soll. Einer Widersprüchlichkeit, dies sei bereits an dieser Stelle vermerkt, die in Wahrheit tief im Innern der Aufklärung selbst ihre Wurzeln hat und von hier aus – jenseits aller historischen Zäsur – ein besonderes Moment ideengeschichtlicher Kontinuität hin zur Romantik begründet. Arndt selbst reflektiert sehr bewusst die eigene geistige Prägung durch die Aufklärung als eine widerspruchsvolle Erfahrung, wenn er im Jahre 1802 bekennt: „So sehe ich Dich, 18tes Sekulum, das ich das meine nenne, weil ich 30 Jahre darin gelebt habe, sein Wohl und Weh, seine Bildung und Verbildung sich tief in mir eingesiedelt hat.“8
Es ist jene Zeit, in der sich ein Kernbereich romantischen Gedankenguts zu einer sozialen, politischen und künstlerischen Protestbewegung formiert, deren gemeinsame ethische Plattform vor allem und in erster Linie in der Zurückweisung des wissenschaftlich propagierten und praktisch erfahrenen Utilitarismus,9 im Ringen um Wahrhaftigkeit und um die Zurückgewinnung der Menschenwürde besteht. Sie folgt insbesondere den Anregungen Rousseaus, Kants und Herders, wird aber auch inspiriert und weiter getragen durch so unterschiedliche Geister wie Burke und Fichte, Chateaubriand und Mme de Staël, Schiller und die Gebrüder Schlegel. Genau hier werden wir auch den ethischen Mittelpunkt jenes „politischen Glaubensbekenntnisses“ entdecken, wie es Ernst Moritz Arndt in seiner Schrift „Germanien und Europa“ formuliert und begründet und wie es bestimmend wurde für sein gesamtes weiteres Schaffen und für sein politisches Engagement.
Um diesen Ansatz zu verstehen ist es nun in der Tat notwendig, etwas ausführlicher auf einige Aspekte der politischen und philosophischen Ideengeschichte der Spätaufklärung in Frankreich und damit zusammenhängende Phänomene des Epochenumbruchs einzugehen, die erst in jüngerer Zeit von der Forschung wahrgenommen wurden, aber noch längst nicht den Weg in die Lehrbücher der Geschichte gefunden haben.10
Lässt man den modernen Republikanismus der Einfachheit halber mit Rousseau beginnen, so wird doch oft übersehen, dass die republikanischen Prinzipien Rousseaus – je nach ihrer philosophischen Untersetzung – zumindest in zwei völlig konträre Modelle einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung münden konnten. Folgte man der im „Contrat social“ dargelegten Auffassung einer aliénation totale, letztlich also dem Konzept einer staatsbürgerlichen Erziehung, die Rousseau selbst als den eigentlichen Schlüssel einer politischen und moralischen Regeneration der Gesellschaft bezeichnet hatte, so würde eine hierarchiefreie Solidargemeinschaft freier Staatsbürger entstehen, die den Einzelnen gleichwohl dem Gesetz der Gemeinschaft unterwerfen würde. Freiheit und Gleichheit würden sich durch eine Art Menschwerdung des Bourgeois ohne Widerspruch miteinander verbinden und ein patriotisches Tugendideal der Solidarität und Opferbereitschaft hervorbringen.
Gänzlich anders dagegen die physiokratische Lesart des „Contrat social“, besser bekannt unter dem Namen des modernen Liberalismus.11 Hier konnte das bürgerliche Gemeinwohl auf marktwirtschaftlicher Grundlage als Summe der Partikularinteressen verstanden werden. Dieser Lesart entsprach die ihrem Wesen nach materialistische Doktrin vom „wohlverstandenen Interesse“ als Triebfeder moralischen Handelns. Die gesellschaftlichen Beziehungen werden hier als ein permanenter Austausch gegenseitiger Nützlichkeiten gefasst, angetrieben vom „Allgemeininteresse“ größtmöglicher Bereicherung und Genussbefriedigung. Aus dem Staatsbürger wird auf diese Weise der Konsument (oder auf Neudeutsch: der Verbraucher) als politischer, oder besser entpolitisierter Ansprechpartner des Staates.
Fatalerweise handelt es sich bei dieser Projektion einer interessengesteuerten Menschennatur, deren soziale Bindungen ausschließlich dem gegenseitigen Nutzen folgen, gleichzeitig um das letzte Wort jener von Teilen der französischen Aufklärung gefeierten „Naturwissenschaft vom Menschen“. Als science politique et morale wurde sie seit dem Aufkommen der physiokratischen Bewegung artikuliert.12 Ihre ausdrückliche Verbindung zur sensualistischen Erkenntnistheorie Condillacs erfolgt in einem geschlossenen Lehrgebäude, nämlich der so genannten „Idéologie“ um die Jahrhundertwende durch die Gruppe der Idéologues um Cabanis, Condorcet, Volney, Roederer und Destutt de Tracy. In unzähligen so genannten „Katechismen der Bürgermoral“,13 die Frankreich seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts überschwemmen, wird diese utilitaristische Ethik verbreitet mit dem erklärten Ziel, den inzwischen ebenfalls populär gewordenen Vorstellungen einer egalitären Bürgerordnung, wie sie durch Mably, Morelly und andere angeregt wurden, entgegen zu treten. Dabei wird selbst der Begriff der égalité, der als gefährliche oder mißverständliche Forderung neben den Begriff der liberté getreten ist, umgedeutet. Gleichheit steht im marktwirtschaftlich orientierten Konzept des Liberalismus für einen ausgewogenen Wechselkurs des gesellschaftlichen Tauschhandels von Leistung und Gegenleistung. Valeur égale pour valeur égale ist die Formel, die Condillac hierfür verwendet und die lediglich jene andere Form der Gleichheit ausdrückt, wonach alle Bürger einander ‘gleichermaßen’ ihre Dienste entlohnen: Tous les citoyens sont salariés les uns à l’égard des autres […] et chacun se fait payer de son travail.14
Diese begriffliche Umdeutung erlaubt es den physiokratischen Autoren Le Mercier, Dupont de Nemours, Baudeau, Mirabau, selbst d’Holbach und Condillac, am „Naturgesetz“ der sozialen Ungleichheit festzuhalten und sich dennoch verbal der populären Gleichheitsforderung anzuschließen. Es ist die originäre und wichtigste Aufgabe der bereits erwähnten „Katechismen der Bürgermoral“ eben diese Lesart der Gleichheitsforderung als Ausdruck einer am rechenbaren Nutzen orientierten Moral zu verbreiten und die empirisch überprüfbare Natur des Menschen – frei nach Helvétius – auf sein Interesse, genauer gesagt, den Trieb nach sinnlicher Befriedigung zurückzuführen. Auf diese Weise glaubte man, das Newtonsche Naturgesetz einer auf Tauschhandel gründenden Gesellschaft entdeckt zu haben. Die ausschließlich dem Gewissen verpflichtete freie Willensentscheidung, wie sie Rousseau zur Grundlage allen moralischen Handelns erhoben hatte und wie sie auch Kant und Fichte als Ausdruck des Sittengesetztes forderten, bleibt in der politischen Terminologie, damit auch in der propagandistischen Freiheitsforderung erhalten, verändert aber ihren begrifflichen und damit vor allem ihren moralischen Gehalt: Im Menschenbild des so genannten Liberalismus ist der Wille grundsätzlich ein Instrument des intérêt (des Interesses). Zwar hatte Kant diese Ambivalenz erkannt und in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von 1785 die Idee der Freiheit und damit alle Sittlichkeit auf die Autonomie des Verstandes und des Willens zur Pflichterfüllung gegründet und diese Ebene klar vom sinnlich bedingten „Prinzip der Glückseligkeit“ unterschieden. Doch die beschriebene Verfälschung der politischen Philosophie Rousseaus bleibt in der revolutionären Rhetorik des Liberalismus erhalten und so kommt es während der Französischen Revolution anlässlich der politischen Auslegung der eilig verfassten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum offenen Konflikt sowie zu einer nie da gewesenen Konfusion der politischen Sprache. Denn im Grunde sind die politischen Forderungen der Fraktionen des Dritten Standes nach Freiheit, Gleichheit und sogar Brüderlichkeit terminologisch identisch. Doch auf der begrifflichen Ebene, d.h. auf der Ebene dessen, was eigentlich gemeint ist, klafft der unüberbrückbare Gegensatz zweier Konzepte der politischen Ethik, die alternativ das Partikularinteresse oder aber dessen Unterordnung unter das nationale Interesse mit all den sich ergebenden Folgen zur Handlungsmaxime erheben. Bedenkt man die ethische Dimension dieses Grundkonfliktes, dann wird diese Auseinandersetzung m.E. nur sehr unzureichend als Gegensatz von „Proprietaristen“ und „Egalitaristen“ beschrieben. Diese begriffliche Widersprüchlichkeit der berühmten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 schreibt sich fort in den verschiedenen anderen, in der Geschichtsschreibung ausgeblendeten Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution ebenso wie in allen politischen Reden und Verlautbarungen, kurzum im gesamten politischen Diskurs dieser Revolution. Der damit einhergehenden Entwertung der politischen Bekenntnisse folgt eine Entwertung der moralischen Glaubwürdigkeit aller couleur und damit schließlich eine Entwertung der sozialen Orientierungsfunktion der Sprache. Von allen Zeitgenossen wird dieses Phänomen einer akuten Sprachverwirrung auf das Eindringlichste beschrieben. Germaine de Staël, die sich als kritische und mitunter prophetische Zeitzeugin erweist, spricht in unzähligen Zusammenhängen vom Phänomen des „Missbrauchs, den man seit der Revolution mit der Sprache getrieben hat“.15 In einem „Dictionnaire néologique des Hommes et des Choses“, das im Jahre 1800 erscheint, lesen wir unter dem Stichwort abus des mots, dass „seit dem Anbeginn der Welt der Missbrauch der Wörter niemals so weit fortgeschritten sei, wie gegenwärtig“. Um die neue Sprache zu verstehen, bedürfe man nur noch eines Wörterbuches, dass etwa Freiheit mit Sklaverei übersetze, Menschlichkeit mit Barbarei und Tugend mit Verbrechen. Schließlich sei der Terminus Wortmissbrauch selbst am meisten missbraucht worden.16 Beliebig viele Beispiele für die bewusste und kritische Wahrnehmung dieser allgemeinen Sprachverwirrung lassen sich auch bei Ernst Moritz Arndt finden, der nicht müde wird, „das unendliche Spiel mit Worten und Namen“, das „leere Wortgeklingel“ zu kritisieren und übrigens schon 1802 – ganz in demselben Sinn wie später Friedrich Engels – über Täuschung und Selbsttäuschung des französischen Volkes reflektiert, wenn er u.a. schreibt: „das Volk meinte aber doch immer noch die Sache der Freiheit und Gleichheit in allen diesen Auftritten zu sehen“.17 Engels wird im gleichen Zusammenhang später von einer Maskerade der Sprache sprechen.18 August Wilhelm Schlegel beobachtet dieses Phänomen mit großer Klarsicht in seinen Vorlesungen zu Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters im Wintersemester 1801/1802, wenn er u.a. ausführt: „Es sind Rousseaus Lehren, ausgewässert und gut oder übel mit den ökonomischen Maximen zusammengeknetet. Denn die Sittlichkeit, worauf alles scheinbar abzielt, ist doch nichts anders als ökonomische Brauchbarkeit.“19 Und zugespitzt auf den Kern des Problems betont Schlegel, „dass man echten Patriotismus aus dem Eigennutz hervorzulocken gedachte, wobei man sich so sehr verrechnete […], dass unter der Maske von jenem dieser nur um so ungehinderter sein Spiel treiben konnte.“20
Bedenkt man die zentrale Rolle, die der Sprache als dem Instrument und Träger der menschlichen Vernunft, ja geradezu als deren Inbegriff im Zuge der Aufklärung beigemessen wurde, so lässt sich die Tragweite einer derartigen Glaubwürdigkeitskrise der Sprache erahnen. Ihre Entwertung bringt den auf die konstitutive Rolle des sprachlichen Zeichens fixierten Rationalismus der Aufklärung selbst in Verruf, mithin ebenso alle daraus abgeleiteten Verheißungen einer liberalen Politik und einer atheistischen Moral.
Mit beißender Ironie spricht Chateaubriand in seinem „Génie du Christianisme“ von dem schönen Jahrhundert der Diderot und d’Alembert als einem Jahrhundert, in welchem die Dokumente der menschlichen Weisheit alphabetisch geordnet wurden in der Enzyklopädie, diesem Babel der Wissenschaften und der Vernunft.21
Der Vergleich mit dem Turmbau zu Babel scheint nicht übertrieben für das Desaster einer Kultur des Wortes, deren Fortschrittseuphorie soeben noch den Sieg der Vernunft verkündet und – im wörtlichen Sinn – die Thronbesteigung der Philosophie nach einem Jahrhundert der Aufklärung – übrigens auch in den Ausdrucksformen einer klassizistischen, nicht selten monumentalen Kunst – gefeiert hatte.
Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache gerade auch unter dem Blickwinkel der Wahrhaftigkeit, wie wir wissen, auch für Ernst Moritz Arndt ein ständiges und zentrales Problem. Als „Bildungsorgan des Gemüthes“ und „Ausdruck unserer inneren Gestalt“ prägt die Sprache, nach Arndts Überzeugung, die er übrigens mit Humboldt teilt, den Charakter der Nation.22 Hierzu fügt sich auch der Umstand, dass Arndt sehr bewusst eine volkstümliche Ausdrucksweise praktiziert und nicht selten, für propagandistische und poetische Aussagen, Diktion und Syntax der Lutherischen Bibel imitiert. Darüber hinaus bilden seine sprachtheoretischen Ansichten, denen er mehrere Veröffentlichungen widmet, nachweisbar – wie übrigens auch bei Rousseau – einen wichtigen Teil seines Demokratiediskurses. Denn dessen Besonderheiten, angefangen von der Einforderung „unbeschränkter Pressfreiheit ohne welche auch die bürgerliche Freiheit nicht bestehen kann“23 über die Forderung nach freier, öffentlicher Rede, z.B. auch nach Öffentlichkeit der Reichstagsverhandlungen, um den Verwirrungen der politischen Begriffe „den großen Sinn und die Kraft und Klarheit der politischen Dinge“ entgegenzusetzen, und vieles andere mehr, bis hin zur Proklamation dessen, was er Volkshaß nennt, sind aus dieser Verbindung sprachtheoretischer Ansichten mit dem Demokratiediskurs zu erklären. Die Sprache selbst nennt Arndt, der hier bereits den Spuren des auf Herder zurückgehenden Historismus folgt, das „heiligste Heiligtum“ eines Volkes, das auch dessen „früheste Geschichte“ enthält, das den „hellsten Spiegel seines Gemütes und seines geistigen Lebens“ darstellt und das deswegen geehrt, bewahrt und beschützt werden müsse.24
„Wer seine Sprache nicht achtet und liebt“, schreibt er, „kann auch sein Volk nicht achten und lieben; wer seine Sprache nicht versteht, versteht auch sein Volk nicht.“25 Und an anderer Stelle: „Was (also) die Sprache verwirrt und verrückt […] das hat auch den Einfluß der Verwirrung, Verrückung, Hemmung und Trübung des ganzen Volkes.“26 Von dieser Position aus definiert Arndt auch seine Distanz zur Sprache der Gelehrsamkeit und der Fürsten, die er als „Hochgeboren und Edelgeboren und Hochedelgeboren“ verspottet, wenn er u.a. schreibt: „Wer nicht in dem Volke lebt, wer nicht täglich von dem Volke empfängt und annimmt, wird immer dümmer und enger, wie klug und weit er sich auch dünken mag.“27 Er selbst, sagt Arndt voller Stolz, „sei geboren aus dem kleinen Volk […] und wenn ich etwas weiß, so weiß ich es durch das Volk.“28
Dass Arndt der Sprache eine zentrale politisch-moralische Funktion beimisst und dabei, nach dem Vorbild Rousseaus, eine die ganze Gesellschaft erfassende Regeneration, die Entstehung eines demokratischen Nationalbewusstseins, auf die moralische Integrität der Sprache des Volkes gründet, lässt sich also sehr einfach zeigen. Arndt steht damit sowohl in der Tradition der Aufklärung, was die Überzeugung von der das Bewusstsein steuernden Funktion der Sprache im Allgemeinen angeht, als auch in der spezifischen Tradition Rousseaus, was die Werte vermittelnde Funktion der Sprache betrifft. Die eigene publizistische Erfahrung mochte ihn dabei in jeder Hinsicht bestärkt haben und sein immer währendes Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit bringt diese Überzeugung ebenfalls zum Ausdruck. Verständlich, dies sei hier am Rande erwähnt, erscheint übrigens – angesichts der feudalen Kleinstaaterei, die Deutschland lähmt – die besondere national-integrative Funktion, die Arndt der Sprache zuweist.
Noch über Jahrzehnte wird indessen die Erschütterung nachklingen, die die angedeutete Inflation der Worte, die Entwertung politischer Bekenntnisse und die Verdrehung aller Begriffe von Moral und Anstand ausgelöst hatte. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit ebenso wie eine neue Form der Erkenntnissuche, die der Buchstabengelehrtheit zugunsten eines neuen Symbolismus der poetischen Formen den Rücken kehrt, werden so zu wichtigen Impulsen romantischer Kunst und Literatur.29 Dabei ist der Symbolismus der Romantik bisweilen mystischer Natur und doch wahrhaftiger als das Wort. Mit der Sprache der Sinnbilder – denken wir an Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge – setzt er auf Innerlichkeit, auf das geheime, aller Täuschung überhobene Miteinander von Autor und Leser, Maler und Betrachter und erreicht eben damit eine Glaubwürdigkeit, die der Sprache der Vernunft und ihrer Zweideutigkeit verwehrt bleiben muss. Die Kritik am rationalistischen Sprachverschleiß, ebenso wie die Kritik an der Herabsetzung des Menschen durch den verkündeten und gelebten Utilitarismus, sind ständige Begleiter dieser Diskussion und Teil der romantischen Selbstfindung, die Arndt mit großer Breitenwirkung in Deutschland mitgestaltet. Dies gilt auch für das Bekenntnis zur christlichen Religion, deren Gebot der Nächstenliebe, der Mäßigkeit und der Opferbereitschaft sich ohne Dissonanz der säkularisierten Moral eines transzendenten Sittengesetzes verbinden, wie es Kant und Fichte vertreten. Beide Reflexionsebenen widersprechen der hedonistischen Ethik und werden daher zu einer Zuflucht für die Menschenwürde. Die christliche Symbolik ist darüber hinaus unerschöpflicher Quell einer Poesie, die sich im exegetischen Sinnbild der transzendentalen Philosophie verbindet.
Zutiefst symbolhaft in diesem ebenso mystischen, wie moralisierenden und ästhetischen Sinn ist Schlegels zeitgenössische Assoziation von Philosophie, Poesie, Religion und Sittlichkeit als den „vier Weltgegenden des menschlichen Geistes“ oder den „vier Elementen“ der Erde, der Luft, des Feuers und des Wassers.30 Von der „hohen Bedeutung göttlicher ewiger Ur-Bilder“, in denen „Denken und Anschauung eins ist“, so Schlegels lange nachhallende Kritik an den Hintergründen der Sprachentwertung, sei das Wort „zu einer durch sinnliche Eindrücke erregten Vorstellung, einer Sensation, selbst in der Sprache seinwollender Philosophen herabgesunken, […] So hat man Kunst und Poesie zur bloßen Verstandesprosa gemacht […], so hat man die Sittlichkeit aus dem Hange zum Vergnügen , dem Eigennutz erklärt und sie damit gänzlich vernichtet.“31
„Echte Poesie“, schreibt Schlegel, „wird von selbst zugleich philosophisch, moralisch und religiös sein: gleichsam eine sinnbildliche Philosophie, eine losgesprochene freie Sittlichkeit und eine weltlich gewordene Mystik.“32 Was würde wohl besser, als diese Worte Schlegels, auch die poetischen Schöpfungen Ernst Moritz Arndts, seine Märchenliteratur wie seine Lyrik, oder auch nur seine häufig zu bewundernde sinnbildliche Ausdrucksweise charakterisieren? Denn mit den oben zitierten Worten Schlegels sind wir inmitten jener geistigen Welt angekommen, die uns auch bei Ernt Moritz Arndt auf Schritt und Tritt begegnet und die eigentlich zu bewahren sucht, was die Zuspitzungen eines hedonistischen Menschenbildes im Sinne eines schrankenlos gewordenen Utilitarismus zu verschütten drohten. Menschenwürde und wahrhaftige Kunst als Ausdruck der Freiheit im Schillerschen Sinn, bilden daher auch im ästhetischen Diskurs Ernst Moritz Arndts einen gemeinsamen Wert, der sich jener Geisteshaltung entgegenstellt, die „Nützlichkeit und Brauchbarkeit ihr äußerstes Ziel, Legalität ihre höchste Tugend“ nennt.33 „Das Höchste, was der Geist auf diesem einsamen Weg finden konnte, war Zweckmäßigkeit und Ordnung.“34 An ihrer Stelle, so Arndt, bedürfe man der „Begeisterung des Volkes, worin sich allein die große Kunst sicher und ehrenvoll behaupten kann“.35 Solch große Kunst gilt Arndt aber ganz im romantischen Geist als göttlich und kindlich zugleich. Er sieht sie in Goethes Dichtung verkörpert, den er daher auch als den „Führer eines neuen Musenzeitalters“ verehrt. „Und wahrlich“, so lesen wir bei ihm, „es bedurfte eines göttlichen Genius, um eine so kindliche und hohe Dichtkunst in einem Zeitalter zu erzeugen, welches alle Schönheit aus der Welt herausgepeitscht und weggeschwatzt hat, und dessen höchste Begeisterung Ordnung und Nützlichkeit ist.“36
Wie wir an anderer Stelle u.a. am Beispiel Fichtes zeigen konnten37, sind es letztlich auch bei Arndt die in der Aufklärung geborenen Ideale einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft, der Befreiung des Menschen aus feudaler Knechtschaft und Bevormundung, die ihn umtreiben, wenn er deren Verfälschung durch eine ganz anders geartete politische Entwicklung angreift. So lässt Arndt niemals einen Zweifel aufkommen an seiner Verachtung der „Schmach der abscheulichen Leibeigenschaft“38 und in diesem Sinne an der tiefen moralischen Berechtigung ihrer Abschaffung durch die Französische Revolution. Und im selben Atemzug fordert er – dies ist allgemein bekannt – für alle Völker die Abschaffung jenes „ungeheuren Kabeltaus der Knechtschaft, welches alle edlere Kraft erdrückt“.39 Auch bewundert er den Enthusiasmus und den „höheren Geist der französischen Heere“, der „die Franzosen in dem ersten schönern Taumel ihres jugndlichen Freiheitsgefühls“40 unbesiegbar machte, und es ist kein Geheimnis, dass Arndt – ganz analog zu Fichte – eben genau dieses Vorbild vor Augen hatte, als er die Deutschen zur nationalen Erhebung gegen die französische Besatzungsmacht aufrief. Denn im Geistes Fichtes und seiner „Reden an die deutsche Nation“,41 damit auch im Sinne Rousseaus und der antifeudalen Intention der französischen Revolution, spricht Arndt, angesichts der hereinbrechenden napoleonischen Unterdrückung, ebenfalls dem deutschen Feudaladel, den „Fürsten- und Herrenseelen“ das moralische Recht ab, die Nation zu führen. „Dieses ausgelebte, verkümmerte und alberne Geschlecht soll das Volk durch solch gefährliche Zeiten tragen?“42 Wie ein Menetekel gegenüber dieser späteren politischen Entwicklung mutet es an, wenn Arndt im Jahre 1802 formuliert: „Ich bekenne, wie ich nicht sehe, wie mein Vaterland je zur Einheit eines Volkes gelangen könne, als durch ungeheure Revolutionen, durch Überschwemmung von Fremden, die die Nation unterjochen würde.“43 Arndts spätere politische Forderung, stehende Heere, die er mit „bezahlten Söldnern“ vergleicht, zugunsten allgemeiner Volksbewaffnung abzuschaffen, setzt unter Bezugnahme auf die französischen Erfahrungen der Revolutionsheere und andererseits der inzwischen erfolgreichen Überwindung der französischen Besatzung ebenfalls auf die Kraft des Idealismus: „wie fürchterlich und unüberwindlich Heere sein können, die von einer Idee oder nur einem dunklen gemeinsamen Triebe beseelt sind“.44
Dabei klingen all jene Positionen nach, die vor allem seit Rousseau, Herder und Kant den Horizont der Aufklärung erweitert haben, ohne deren humanistisches Anliegen zu verlassen. Auch Arndt verwirft ausdrücklich und in vielen Zusammenhängen eine Bürgermoral, die bloßen Eigennutz an die Stelle höherer sittlicher Ideale stellt. Auch Arndt glaubt an die gesellschaftsverändernde Kraft einer staatsbürgerlichen Erziehung zu Selbstlosigkeit und Wahrhaftigkeit. Politische Freiheit, davon ist auch Arndt überzeugt, lässt allein „ein tieferes Gefühl für die Würde des Menschen entstehen“ und „(a)us der ganzen freien Bildung solches Staates werden sich die Sitten mit jedem Fortschritt der Gesellschaft mitschreitend entwickeln.(…) Wo auch hier größere Freiheit ist, wird größere Tüchtigkeit oder Tugend kommen zu stehen auf eigenen Füßen.“45
Es ist hinlänglich bekannt, wie in diesem Sinn gerade Rousseau auf Arndt gewirkt hat und hier bietet sich auch am ehesten die Gelegenheit, die geistige Verwurzelung Arndts in der Aufklärung nachzuweisen, im unmittelbaren Einklang übrigens mit seinem eigenen Bekenntnis. Denn unmittelbar nach seiner „Dissertatio wider Rousseau“ relativiert Arndt seine missverständliche Kritik, wenn er über Johann Jakob Rousseau u.a. schreibt: „Bei all seiner Exzentrizität, liegen in seinen politischen Ideen unendliche Saamen einer schönern Ordnung der Gesellschaften, die einmal die Ordnung der Welt werden muß. Aber er sah die Möglichkeit einer bessern Einrichtung des Ganzen nur in der menschlicheren und natürlicheren Bildung des Einzelnen; So entstand sein Buch über die Erziehung.[…] Kein Volk ergriff seine Ideen wohl mit größerer Empfänglichkeit und Liebe, als das meinige, weil es die Tiefe und den hohen Ernst, selbst seiner Paradoxien zu verstehen wusste; aber keines war in einer so ungünstigen Lage, als grade dieses, jene Ideen auszuüben, denn keines war weniger ein Volk. Aber wo die Teutschen sich rühren konnten, da griffen sie rüstig in ihn ein, und dies war in seinen Erziehungsgrundsätzen.“46
Die politischen und ethischen Grundprinzipien Rousseaus, denn nur von „Prinzipien“, nicht aber von praktischer Politik handelt z.B. der „Contrat Social“, übernimmt Ernst Moritz Arndt in pragmatischem Geist und der für ihn typischen bodenständigen Sprache. So spiegelt es das Wesen der demokratischen Inspiration Rousseaus, wenn Arndt von Vaterlandsliebe und Freiheit als den „zwei Seelen jedes Staates“ spricht, wenn er Vaterlandsliebe als „Aufopferung aller Art“ beschreibt, die „den Menschen stolzer auf sich selbst und edler“ macht, wenn er „ritterliches Eintreten für den Staat“ einfordert, wenn er andererseits extremen Reichtum, Geld und Bestechung – u.a. am Beispiel des britischen Imperiums – mit der „Untergrabung der Säulen der Freiheit“ verbindet und wenn er den „größten Gehorsam gegen das Gesetz, eine unverletztliche Subordination“47 fordert. Auch Rousseaus Formulierung für den Begriff der ‘moralischen Freiheit’ als ‘freiwillige Unterordnung unter das selbst gegebene Gesetz’ klingt hindurch, wenn Arndt bekennt: „Wer am meisten frei seyn will, muß den größten Gehorsam haben.“48 Doch auch hier lässt Arndt schließlich seinen Pragmatismus erkennen, wenn er schreibt: „Man sagt, ein Volk sey frei, das sich seine Gesetze selbst giebt und keine Herrschaft erkennt über diese Gesetze hinaus. Ich mögte, dass es sie nur kennen und anerkennen solle und dass vor diesen Gesetzen kein Unterschied der Person, keine Ausnahme sey […].“49
Was die von Arndt so hoch geschätzte und propagierte Idee des Patriotismus angeht, so steht auch sie weniger als häufig angenommen für den Gegensatz eines romantisch-nationalen zur aufklärerisch-kosmopolitischen Haltung. Denn in Wirklichkeit liegt auch dieser Konflikt mitten in der Aufklärung selbst, es sei denn, man würde Rousseau und den modernen Republikanismus aus der Aufklärung verbannen. Patriotismus als Bekenntnis des Staatsbürgers zu seinem Vaterland, dessen mündiger Teil er ist, beschreibt den Kernbereich der politischen Theorie von der Volkssouveränität. Demokratie und glühender Patriotismus sind daher auch in Rousseaus Philosophie untrennbar verbunden und ohne ihre Verschmelzung in der praktischen Politik hätte es keine Französische Revolution und später nie ein demokratisches Deutschland gegeben. Der heute viel beschworene Kosmopolitismus der Aufklärung widerspricht dem Gedanken des Patriotismus in Wirklichkeit nicht, wenn es sich dabei um die von Kant formulierte „Idee eines Weltbürgerrechts“ handelt, das aus dem „öffentlichen Menschenrecht“ folgt.50
Es mag sich anders verhalten mit jenem Kosmopolitismus, der auf einen 1758 formulierten Grundsatz der französischen Physiokraten zurückgeht, wonach „das Kapital ein geheimer Reichtum ist, der weder König noch Vaterland kennt“.51 Als Leitmotiv eines Staaten übergreifenden marktwirtschaftlichen Liberalismus gedacht, steht dieser Grundsatz seit der Mitte des 18. Jahrhunderts für die Idee einer république commerçante universelle.52 Dabei handelt es sich um eine, im Vergleich zu Rousseaus Auffassungen, alternative Auslegung des modernen Republikanismus, die soziale Bindungen ausschließlich auf eine ökonomische Interessenbalance zurückführt. Es war dieser, der politischen Ideengeschichte der Aufklärung innewohnende Reibungspunkt, ein schwerwiegender Richtungsstreit zwischen einer Moralphilosophie des freien Willens und einer Ethik der Zweckbindungen, die Kant 1785 in seiner berühmten „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zu lösen trachtete. Sein kategorischer Imperativ ist eine Absage an die von Hutcheson53 zuerst begründete Moralphilosophie der „Glückseligkeit“ im Namen einer Sittlichkeit des freien Willens und eines unabhängigen Gewissens. Dieser Position folgen Fichte und Schiller, Schlegel, Germaine de Staël und viele andere. Es ist die Grundhaltung der Romantik und der Philosophie des deutschen Idealismus. Ernst Moritz Arndt teilt diese Gedankenwelt und diese Haltung und zählt insofern zu jener Generation, die auf ihre Weise das humanistische Erbe der Aufklärung zu bewahren half.
1 Vgl. u.a. Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, Leipzig 1972; Ders., Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, (Riga 1774), Stuttgart 1990; Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (Riga 1785), Stuttgart 1961.
2 Vgl. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2. Auflage, München 1946.
3 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1879-1894.
4 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932.
5 Ebd., S. XV.
6 Zeev Sternhell, Les anti-Lumières. Du XVIIIe siècle à la guerre froide, Paris 2006.
7 Vgl. Jacques Domenech, L’Éthique des Lumières. Les fondements de la morale dans la philosophie française du XVIIIe siècle, Paris 1989. Vgl. dazu auch Reinhard Bach, Divergente Ansätze säkularisierter Ethik in der französischen Aufklärung, in: Reinhard Bach / Roland Desné / Gerda Hassler, Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, Tübingen 1999, S. 453-469.
8 Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa, Altona 1803, S. 71.
9 Vgl. Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, (1789), Oxford 1970. Destutt de Tracy, Traité de la volonté et de ses effets, Paris 1818, und in der amerikanische Übersetzung: A Treatise of political Economy (...) an introduction on the faculty of the Will, Georgetown 1817; D’Holbach, La politique naturelle, Londres MDCCLXXIII.
10 Vgl. u.a. Le romantisme révolutionnaire, Études et textes de Michael Löwy, Max Blechmann, Jacques Rancière, Rita Bischof, Fernand Cambon und anderen, in: Europe. Revue littéraire mensuelle, Nr. 900/Avril 2004; Reinhard Bach, Les physiocrates et la science politique de leur temps, in: Revue française des Idées Politiques, Nr. 20-2e sem. 2004, S. 229-259.
11 Als Schlüsseltexte der Philosophie eines politischen Liberalismus marktwirtschaftlicher Prägung (in der Begrifflichkeit des modernen Republikanismus nach Rousseau) müssen hier u.a. genannt werden: Le Mercier de la Rivière, L’Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, Paris et Londres 1767, und Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der Dritte Stand, (Paris 1789) Essen 1988.
12 Vgl. die seit 1767 erscheinende Monatsschrift Ephemerides du citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences Morales et Politiques; Reinhard Bach, Sieyès et les origines de la science naturelle de l’état social, in: Schriftenreihe für Philosophie und Kulturtheorie der Technischen Universität Berlin, Bd. 1, Berlin 2001, S. 165-191.
13 Vgl. u.a.: Constantin-François Volney, La Loi Naturelle ou Catéchisme du Citoyen Français, Paris 1793; Joseph Saige, Catéchisme du Citoyen, ou Elémens du droit public français. Genève 1787; Jean Abbé Saury, La Morale du citoyen du monde, Paris 1777.
14 Etienne Bonnot de Condillac, Le commerce et le gouvernement, Paris 1776, S. 49.
15 Germaine de Staël, De la littérature (1800), Ausgabe Paris 1991, S. 403/404. Vgl. auch: „Manche Reden, die in unterschiedlichen Phasen unserer Revolution gehalten wurden, waren angefüllt von den erschütterndsten Sophismen.“ Ebd., S. 395. „Welches Talent sollte so viele absurde, unbedeutende, übertriebene oder falsche, hochtrabende oder ungehobelte Worte durchdringen? Wie sollte man eine Seele erreichen, die sich wegen all der verlogenen Ausdrücke den Worten verschlossen hatte? Ebenda. Diese unglückliche Nation, erlebte sie nicht die verbale Verteidigung aller Verbrechen mit einer Flut von Namen, die alle Tugenden bezeichnen? Wird sie jemals den Akzent der Wahrheit wieder erkennen?“ Ebd., S. 400.
16 Louis-Abel Befroy de Reigny, Dictionnaire néologique des hommes et des choses, Paris 1800.
17 Arndt, Germanien und Europa, (1802/1803), Ausgabe Stuttgart-Berlin 1940, S. 176/177.
18 Friedrich Engels, MEW Bd. 37, S. 155 – Brief an Karl Kautsky, 20. Feb. 1889.
19 August Wilhelm Schlegel, Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (1802/1803), Ausgabe Stuttgart 1964, S. 59
20 Ebd.
21 François-René de Chateaubriand, Génie du Christianisme, (1802), Ausgabe Paris 1936 (Extraits), S. 25.
22 Arndt (wie Anm. 8), S. 357-359.
23 Ernst Moritz Arndt, Über künftige ständische Verfassungen, in: Ernst Müsebeck (Hg.), Ernst Moritz Arndt, Staat und Vaterland. Eine Auswahl, München 1921, S. 22.
24 „Das Volk selbst aber muß seine Sprache als seine älteste Überlieferung und als sein heiligstes Heiligtum ehren und bewahren.“ in: Ernst Moritz Arndt, Über Volkshaß (1813), in: Ders., Schriften für und an seine lieben Deutschen, Teil I, Leipzig 1845, S. 383; ders., Ansichten und Aussichten der teutschen Geschichte, Leipzig 1814, S. 461.
25 Ernst Moritz Arndt, Entwurf einer teutschen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1814, S. 33.
26 Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 24), S. 383.
27 Ernst Moritz Arndt, Über Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache, Berlin 1813, S. 77.
28 Ernst Moritz Arndt, Von dem Wort und dem Kirchenlied, Bonn 1819, S. 47.
29 Vgl. u.a. Bengt Algot Sørensen, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963; Reinhard Bach, Sinnbildliche Botschaften, in: Volker Fuchs (Hrsg.) Von der Unklarheit des Wortes in die Klarheit des Bildes, Tübingen 1998, S. 43-53; Ders., Stilkonzepte im Epochenumbruch: Zwischen Sprachphilosophie der Aufklärung und Kunstverständnis der Romantik, in: Volker Fuchs/Kerstin Störl (Hg.), Stil ist überall, Frankfurt a.M. 2008, S. 21-31.
30 Schlegel (wie Anm. 19), S. 40.
31 Ebd., S. 42/43.
32 Ebd., S. 39.
33 Arndt (wie Anm. 8), S. 79.
34 Ebd.
35 Ebd., S. 146.
36 Ebd., S. 142.
37 Reinhard Bach, Zwischen Aufklärung und Romantik. Deutsch-französische Begegnungen im Epochenumbruch. Vortrag im Krupp Wissenschaftskolleg, Greifswald, 17. 12. 2007; Ders., Rousseau interprété par J. G. Fichte. Vortrag an der Sorbonne, Paris, 24. 5. 2008.
38 Arndt (wie Anm. 8), S. 111.
39 Ebd., S. 306.
40 Ebd., S. 235.
41 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation. Vorlesungen 1807/1808. Hamburg 1978.
42 Ernst Moritz Arndt, Briefe aus Schweden, Stralsund 1926, S. 209.
43 Arndt (wie Anm. 8), S.420.
44 Ernst Moritz Arndt, Die deutsche Wehrmannschaft, in: Ders., Geist der Zeit IV, Berlin 1818, S. 142/143.
45 Arndt (wie Anm. 8), S. 308/309.
46 Ebd., S. 122/123.
47 Ebd., S. 316-319 und 348.
48 Ebd., S. 318.
49 Ebd.
50 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Leipzig 1954, S. 56-60.
51 François Quesnay, Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole. (1758), in : Oeuvres (Hrsg. A. Oncken), Franfurt a. M. 1888, S. 337.
52 Ebd., S. 326.
53 Francis Hutcheson, Philosophiae Moralis Institutio Compendiaria, London 1747.